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Im Gespräch mit Stephan Grünewald

„Seelisches braucht Zeit“

Stephan Grünewald ist einer der Gründer von rheingold, einem Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen in Köln. Grünewald studierte Psychologie an der Universität zu Köln mit Schwerpunkt psychologischer Morphologie bei Prof. Wilhelm Salber. Er ist zusätzlich ausgebildeter Therapeut in analytischer Intensivbehandlung und der Verfasser von „Deutschland auf der Couch“ (aktuell erschienen im Campus-Verlag).

IDPAU: Sie betrei­ben tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Markt­for­schung. Ange­nom­men die uni­ver­si­tä­re Psy­cho­lo­gie käme zu Ihnen auf die Couch, um ihre Wir­kung prüfen zu las­sen – wie würden Sie vorgehen?

Ste­phan Grünewald: Wir unter­su­chen die Mar­ke immer vom Ver­brau­cher aus – wir würden in dem Fall also mit den Stu­die­ren­den Inter­views machen, bei­spiels­wei­se fra­gen „Wie erle­ben Sie Ihr Stu­di­um? In was für eine Ent­wick­lung gera­ten Sie? Die Erwar­tun­gen, die Bil­der mit denen Sie gestar­tet sind – wer­den die ein­ge­löst?“. Ent­wick­lung heißt ja nicht nur, dass Erwar­tun­gen ein­ge­löst wer­den, son­dern auch die Erfah­rung, dass wir in Neu­land, in Unver­trau­tes gera­ten. Das Psy­cho­lo­gie­stu­di­um ist in mei­nen Augen wenn es gut läuft eine gigan­ti­sche Desta­bi­li­sie­rung: Wir haben ja unse­re Wert­sche­ma­ta, wir haben unse­ren Ver­hal­tens­ko­dex, wir haben unse­re Über­zeu­gun­gen, unse­re Hal­tun­gen – das soll alles sys­te­ma­tisch ein­mal hin­ter­fragt wer­den. Es wäre inter­es­sant, wenn man Stu­den­ten heu­te unter­su­chen würde – pas­siert das heu­te noch so? Dass man in einen Pro­zess kommt, wo man wirk­lich wei­che Knie bekommt und das Gefühl hat „ich ver­ste­he mich und die Welt nicht mehr“, das aber als einen Über­gang in ein ande­res Ver­ständ­nis sieht. Die herr­schen­den Ver­hält­nis­se sind ja eher „wie kön­nen wir das direkt hand­hab­bar machen, ope­ra­tio­na­li­sie­ren, für die Wirt­schaft nut­zen“. Ich selbst habe 14 Semes­ter stu­diert – die habe ich auch gebraucht, um Ent­wick­lungs­pro­zes­se mit Höhen und Tie­fen zu durchlaufen.

An den Uni­ver­si­tä­ten bestehen heu­te oft Vor­ur­tei­le gegenüber psy­cho­dy­na­mi­schen Kon­zep­ten – sie gel­ten als unwis­sen­schaft­lich. Was kann eine psy­cho­dy­na­mi­sche Her­an­ge­hens­wei­se heu­ti­gen Psy­cho­lo­gie­stu­die­ren­den bringen?

Ich glau­be, dass man als Stu­dent immer im Blick haben soll­te: Wis­sen­schaft fällt nicht vom Him­mel, son­dern ist Pro­dukt einer Wis­sen­schafts­ge­schich­te. Das heißt es gibt in der Psy­cho­lo­gie – aber auch in ande­ren Wis­sen­schaf­ten – unter­schied­li­che Gegen­stands­bil­dun­gen. Pro­fes­sor Sal­ber begann in sei­ner Habi­li­ta­ti­on damit, sich alle Gegen­stands­bil­dun­gen, die Ende der 50er Jah­re in der Welt verfügbar waren, anzu­schau­en und dar­aus eine Meta-Theo­rie der Gegen­stands­bil­dung zu ent­wi­ckeln. Daher war es nie so, dass man als Stu­dent damals sag­te „das eine ist rich­tig oder falsch“ son­dern „ver­ste­hen geht nur, wenn man sich auf ein Kon­zept ein­lässt und dar­aus eine Strin­genz ent­wi­ckelt“. Wenn man ein Pot­pour­ri macht und in die Belie­big­keit abrutscht – hier ein biss­chen Psy­cho­ana­ly­se, da ein biss­chen Gestalt­theo­rie, hier ein biss­chen Beha­vio­ris­mus, da ein biss­chen Kogni­ti­vis­mus – dann kann man zwar überall auf Par­ties glän­zen, wich­tig ist aber letzt­lich dass man aus einer Metho­de strin­gent Ablei­tun­gen trifft; also dass man weiß, was man tut, und dass es metho­di­sche Gesetz­mä­ßig­kei­ten gibt.

Das Ziel unse­res Ver­ei­nes ist es ja, die Psy­cho­ana­ly­se wie­der mehr in die Uni­ver­si­tä­ten zu inte­grie­ren. Psy­cho­dy­na­mi­sche Kon­zep­te in der Leh­re – was ist Ihre Pro­gno­se dazu?

Die dyna­mi­schen Kon­zep­te wer­den in abseh­ba­rer Zeit nicht die Mehr­heit haben, aber sie wer­den auch nicht unter­zu­krie­gen sein. Das krie­ge ich in mei­ner eige­nen Bran­che mit – wenn die Fir­men nicht wei­ter wis­sen und wirk­li­chen Lei­dens­druck haben, dann kom­men sie zu uns. Letzt­end­lich glau­be ich ist das Ver­hält­nis der Main­stream-Psy­cho­lo­gie zu den psy­cho­dy­na­mi­schen Ansät­zen wie das Ver­hält­nis von Tag und Traum: Der Tag bestimmt 16 Stun­den lang unse­re Wirk­lich­keit, der Traum als Selbst­ge­spräch der See­le rückt wie­der in den Blick, was in unse­rer See­le los ist, was wir viel­leicht auch noch wol­len, was wir nicht berücksichtigt haben – der Traum ist viel psy­cho­lo­gi­scher als das Tag­werk und das träu­men­de Auge sieht mehr als das wache Auge. Aber ich glau­be, unse­re Wirk­lich­keit ist auch so gebaut, dass wir viel bes­ser funk­tio­nie­ren, wenn wir uns vie­le Sachen nicht klar machen, wenn wir nicht hin­gu­cken, wenn wir so eine „Augen zu und durch“-Denke haben. Ich beschrei­be das ja auch in mei­nem Buch „Die erschöpf­te Gesell­schaft“ – gera­de im Ange­sicht der Kri­se schal­ten vie­le auf Auto­pi­lot, stürzen sich in Über­be­trieb­sam­keit, weil die­ses Hams­ter­rad uns die­sen wun­der­ba­ren Zustand der besin­nungs­lo­sen Betrieb­sam­keit beschert: Wir müssen uns kei­nen Kopf machen, uns nicht mit unge­lös­ten Fra­gen her­um­schla­gen. Das ist eine unge­heu­re Erleich­te­rung, und vie­le Men­schen wer­den unru­hig, wenn sich am Wochen­en­de unver­plan­te Zeit eröff­net, weil dann stürzen wie­der die offe­nen Fra­gen auf sie ein. Psy­cho­dy­na­mi­sche Ansät­ze wird es immer wie­der geben, sie wer­den uns fas­zi­nie­ren, sie wer­den uns in Unru­he stürzen, aber sie wer­den glau­be ich nie mehr­heits­fä­hig sein.

Es ist wich­tig, als Psy­cho­lo­ge der eige­nen Neu­gier, den eige­nen Inter­es­sen zu fol­gen. Die Fra­gen, mit denen ich ein­mal ange­tre­ten bin – krie­ge ich die hier beant­wor­tet? Wird hier mein For­scher­geist befeuert?

Ste­phan Grünewald

Auch unter Stu­die­ren­den wächst die Zahl der Erschöpf­ten. Was würden Sie Psy­cho­lo­gie­stu­die­ren­den in Zei­ten von Bache­lor und Mas­ter raten, um nicht in die Hams­ter­rad-Fal­le zu tappen?

Es ist wich­tig, als Psy­cho­lo­ge der eige­nen Neu­gier, den eige­nen Inter­es­sen zu fol­gen. Die Fra­gen, mit denen ich ein­mal ange­tre­ten bin – krie­ge ich die hier beant­wor­tet? Wird hier mein For­scher­geist befeu­ert? Man kann das nicht auf Knopf­druck, man kann nicht sagen „ich pauk´ das ein“ – son­dern das sind Ent­wick­lungs­pro­zes­se, die sich über Semes­ter, manch­mal über Jah­re ent­span­nen. See­li­sches braucht Zeit. Um das Vor­di­plom her­um hat sich eine Freun­din von mir getrennt, darüber bin ich in eine Kri­se gera­ten und habe mich sel­ber auf die Couch gelegt; die­se Ver­qui­ckung, dass ich sel­ber ein­mal auf der Couch erlebt habe, was ein Wider­stand ist – das hat fast genau so viel gebracht wie das Stu­di­um. Leib­na­he Erfah­run­gen sind wich­tig – dass man sel­ber klei­ne Unter­su­chun­gen macht, dass man Erle­bens­be­schrei­bun­gen anfer­tigt, dass man mit sei­nen Kom­mi­li­to­nen dis­ku­tiert; dass man das, was man mehr oder weni­ger theo­re­tisch ver­stan­den hat, am eige­nen Leib noch ein­mal erfährt – das ist fast noch wich­ti­ger als die Lehrveranstaltungen.

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