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Zurück zu Kant und Wundt!

Psychologie als „Empirische Geisteswissenschaft“ auf dem Weg zu einer „psychologischen Anthropologie“ - Die Diskussion von Grundfragen der Psychologie durch Jochen Fahrenberg

Psy­cho­lo­gie als „Empi­ri­sche Geis­tes­wis­sen­schaft“ auf dem Weg zu einer „psy­cho­lo­gi­schen Anthro­po­lo­gie“ – Die Dis­kus­si­on von Grund­fra­gen der Psy­cho­lo­gie durch Jochen Fahrenberg

Am Anfang der Psy­cho­lo­gie als Wis­sen­schaft, die ihren Platz an der Uni­ver­si­tät bean­sprucht, steht ein Ver­dikt Imma­nu­el Kants, nach wel­chem die Psy­cho­lo­gie eine „exak­te“ Wis­sen­schaft nicht sein kön­ne. Er sagt: „Ich behaup­te aber, das in jeder beson­de­ren Natur­leh­re nur so viel eigent­li­che Wis­sen­schaft ange­trof­fen wer­den kön­ne, als dar­in Mathe­ma­tik anzu­tref­fen ist … Noch wei­ter aber als Che­mie [Anm.: die zu Kants Zeit eben­falls nicht mathe­ma­ti­sier­bar war; H.-V.W], muß empi­ri­sche See­len­leh­re jeder­zeit von dem Ran­ge einer eigent­lich so zu nen­nen­den Natur­wis­sen­schaft ent­fernt blei­ben, erst­lich weil Mathe­ma­tik auf die Phä­no­me­ne des inne­ren Sinns und ihre Geset­ze nicht anwend­bar ist“ [alle Zi-tate nach Fah­ren­berg]. Die psy­chi­schen Phä­no­me­ne, so fährt er sinn­ge­mäß fort – und er meint damit offen­bar die Inhal­te des Bewußt­seins­stro­mes, im ein­fachs­ten Fal­le Gedan­ken und Vor­stel­lun­gen –, las­sen sich nicht von­ein­an­der abgren­zen, iso­lie­ren und kon­stru­ie­ren, ganz anders als Gegen­stän­de im Raum, son­dern sind beob­acht­bar ledig­lich in der Dimen­si­on der Zeit. Die Intro­spek­ti­on aber sei unzu-ver­läs­sig, und ande­re Per­so­nen kön­ne man über ihre Erleb­nis­se nicht befra­gen, weil die Befra­gung selbst die Beob­ach­tung beein­träch­ti­ge. Gleich­wohl hat sich Kant nicht davon abhal­ten las­sen, 30 Jah­re lang eine Vor­le­sung „Anthro­po­lo­gie in prag­ma­ti­scher Hin­sicht“ zu lesen und die­se 1798 schließ­lich zu ver­öf­fent­li­chen. Obwohl die Psy­cho­lo­gie kei­ne „exak­te“ Wis­sen­schaft sein kön­ne, war Kant weit davon ent­fernt, ihr nicht als „empi­ri­sche“ Wis­sen­schaft und als prak­ti­sche Men­schen­kun­de, die auf „inne­rer Erfah­rung“ und der Kennt­nis des Lebens durch die Erfah­run­gen ande­rer (ihre Gewohn­hei­ten, aber auch Rei­se­be­rich­te, Schil­de­run­gen in Roma­nen, usw.) beruht, einen wis­sen­schaft­li­chen Stand­ort an der Uni­ver­si­tät einzuräumen.
Die Grün­der­vä­ter der Psy­cho­lo­gie – genannt wer­den zumeist Her­bart, Weber, Fech­ner, Wundt – haben sich auf kom­pli­zier­ten Wegen mit dem Ver­dikt Kants aus­ein­an­der­ge­setzt und ihm zuwi­der das Zäh­len und Mes­sen, zunächst auf dem Gebiet der Psy­cho­phy­sik, als Metho­den der Psy­cho­lo­gie eta­bliert. Die expe­ri­men­tel­le Psy­cho­lo­gie war gebo­ren, und ihre Geburts­stun­de wird mit der Grün­dung des ers­ten psy­cho­lo­gi­schen Labo­ra­to­ri­ums 1879 durch Wil­helm Wundt in Leip­zig ange­ge­ben. Unter expe­ri­men-tell und im erwei­ter­ten Sin­ne „empi­risch“ wird nach einer lan­gen Ent­wick­lung heu­te ver­stan­den, daß eine psy­cho­lo­gi­sche Fra­ge­stel­lung so for­mu­liert sein muß, daß sie mit Hil­fe bestimm­ter metho­di­scher Stra­te­gien, deren idea­les Vor­bild das Expe­ri­ment (expe­ri­men­tum cru­cis) ist, geklärt wer­den kann. Die­se Auf­fas­sung von psy­cho­lo­gi­scher Empi­rie ist in ihrem Kern ein­fach und über­zeu­gend. Man kann ihr nicht wider­spre­chen, ohne sich des Obsku­ran­tis­mus ver­däch­tig zu machen. Die Kehr­sei­te die­ses empi­ri­schen Unter­neh­mens ist aller­dings eben­falls offen­sicht­lich: als wis­sen­schaft­li­che psy­cho­lo­gi­sche Fra­ge­stel­lung kommt nur in Betracht, was sich der vor­ge­ge­be­nen Metho­do­lo­gie, den Ope­ra­tio­na­li­sie­run­gen und den sta­tis­ti­schen Hilfs­mit­teln unter­wer­fen läßt. Damit fal­len wei­te Berei-che des­sen weg, was an der Psy­cho­lo­gie inter­es­sant sein könn­te und was man – Kant fol­gend – in sei-ner umfas­sen­den Fra­ge „Was ist der Mensch?“ in die­ser Wis­sen­schaft anzu­tref­fen hofft.

Das Sur­fen im Inter­net stößt manch­mal auf Uner­war­te­tes. In beschei­de­nen PDF-Datei­en wird die ge-gen­wär­tig domi­nie­ren­de Rich­tung der Uni­ver­si­täts-Psy­cho­lo­gie grund­sätz­lich in Fra­ge gestellt.
Unge­wöhn­lich ist, daß es aus­ge­rech­net ein als Empi­ri­ker aus­ge­wie­se­ner Psy­cho­lo­gie-Pro­fes­sor ist, der die Lage der Psy­cho­lo­gie ana­ly­siert und sie in ihren Grund­über­zeu­gun­gen kri­ti­siert. Er erin­nert an die weit­ge­hend ver­ges­se­ne bzw. nicht mehr zitier­te psy­cho­lo­gi­sche Anthro­po­lo­gie Kants und unter­zieht die ein­sei­ti­ge Wis­sen­schafts­kon­zep­ti­on der Psy­cho­lo­gie einer Kri­tik, die sich an den Leit­ge­dan­ken des Grün­der­va­ters, Wil­helm Wundt, und des­sen umfas­sen­der und mul­ti-per­spek­ti­vi­scher Wis­sen­schafts-kon­zep­ti­on ori­en­tiert. In der bereits zu Wundts Leb­zei­ten deut­li­chen Distan­zie­rung von sei­ner Kon-zep­ti­on und sei­ner Metho­den­leh­re sei­en wich­ti­ge Grün­de für die wie­der­keh­ren­de Dia­gno­se grund­sätz-licher „Kri­sen“ und Fehl­ent­wick­lun­gen der Psy­cho­lo­gie, für die anhal­ten­den Ver­stän­di­gungs­schwie-rig­kei­ten sowie die Abspal­tung von For­schungs­rich­tun­gen zu erkennen.

Jochen Fah­ren­berg ist durch sei­ne expe­ri­men­tel­len Arbei­ten auf dem Gebiet der Psy­cho­phy­sio­lo­gie sowie durch sein in For­schung und Anwen­dung weit ver­brei­te­tes Frei­bur­ger Per­sön­lich­keits-Inven­tar (FPI) bekannt. 1973 wur­de er als Nach­fol­ger von Robert Heiß auf das Ordi­na­ri­at für Psy­cho­lo­gie der Uni­ver­si­tät Freiburg/Breisgau beru­fen und 2002 emeritiert.
In einem 2008 in dem „e‑Journal Phi­lo­so­phie der Psy­cho­lo­gie“ ins Netz gestell­ten Auf­satz „Die Wis-sen­schafts­kon­zep­ti­on der Psy­cho­lo­gie bei Kant und Wundt“ (3) stellt Fah­ren­berg Kant als den be-deu­tends­ten Psy­cho­lo­gen in der Zeit nach John Locke und vor Wil­helm Wundt her­aus und sei­ne „Anthro­po­lo­gie in prag­ma­ti­scher Hin­sicht“ als ers­tes vor­bild­haf­tes Lehr­buch der Psy­cho­lo­gie. Kant habe zwi­schen phy­sio­lo­gi­scher Anthro­po­lo­gie und prag­ma­ti­scher Anthro­po­lo­gie unter­schie­den. Mit der ers­te­ren, aus der the­ma­tisch die spä­te­re neu­ro-psycho-phy­sio­lo­gi­sche For­schung her­vor­ging, habe er sich nicht befasst, da der Mensch „die Gehirn­ner­ven und Fasern nicht kennt, noch
sich auf die Hand­ha­bung der­sel­ben zu sei­ner Absicht ver­steht“. Die zwei­te, die in Kants Dreihun-dert­sei­ten-Werk domi­niert, ist für Fah­ren­berg des­we­gen so bedeut­sam, weil Kant hier die Grund­the-men der Anthro­po­lo­gie ( = Psy­cho­lo­gie) als einer Ver­mitt­lungs­wis­sen­schaft zwi­schen den Natur‑, Geistes‑, Sozi­al- und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten anschlägt. Damit habe Kant ein Feld abge­steckt, das von sei­nen Nach­fol­gern und beson­ders von der heu­ti­gen Uni­ver­si­täts-Psy­cho­lo­gie nur sehr begrenzt als inter­dis­zi­pli­nä­re Arbeits­auf­ga­be ange­nom­men wur­de. Kant als Weg­wei­ser zu einer psy­cho­lo­gi­schen Anthro­po­lo­gie wur­de fast völ­lig vergessen.

Ähn­li­ches geschah mit Wil­helm Wundt. Er wur­de zwar nicht ver­ges­sen, aber erin­nert wur­de nur der Wundt der „Grund­zü­ge der phy­sio­lo­gi­schen Psy­cho­lo­gie“ (1874). Der Wundt der Logik der Geis-tes­wis­sen­schaf­ten, d.h. der Wis­sen­schafts­leh­re ein­schließ­lich Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re (1906−1908) und der „Völ­ker­psy­cho­lo­gie“ (1900−1920) dage­gen gewann kei­nen nach­hal­ti­gen Ein­fluß auf die wei­te­re Ent­wick­lung des Faches. Wundt unter­schied zwi­schen ein­fa­che­ren und höhe­ren psy­chi­schen Vor-gän­gen und war über­zeugt, daß die höhe­ren See­len­tä­tig­kei­ten nicht expe­ri­men­tell unter­sucht wer­den könn­ten, son­dern dafür eine eige­ne Metho­dik erfor­der­lich sei. Er schrieb: „Dem­nach ver­fügt die Psy-cho­lo­gie, ähn­lich der Natur­wis­sen­schaft, über zwei exak­te Metho­den: die ers­te, die expe­ri­men­tel­le Metho­de, dient der Ana­ly­se der ein­fa­che­ren psy­chi­schen Vor­gän­ge; die zwei­te, die Beob­ach­tung der all­ge­mein­gül­ti­gen Geis­tes­er­zeug­nis­se, dient der Unter­su­chung der höhe­ren psy­chi­schen Vor­gän­ge und Ent­wick­lun­gen.“ – „Als die Haupt­auf­ga­be der Wis­sen­schaf­ten, deren Objek­te geis­ti­ge Vor­gän­ge und geis­ti­ge Erzeug­nis­se sind, betrach­ten wir es, daß sie uns die­se Objek­te ver­ste­hen leh­ren. Die Me-tho­de aber, die ein sol­ches Ver­ständ­nis ver­mit­teln soll, nen­nen wir die Inter­pre­ta­ti­on“. Die­se unter-liegt eben­falls wis­sen­schaft­li­chen Kri­te­ri­en und Prin­zi­pi­en: „Zum Inter­pre­ta­ti­ons­pro­zeß gehö­ren das Hin­ein­den­ken in das psy­chi­sche Objekt, Auf­stel­lung lei­ten­der Hypo­the­sen und ein Pro­zeß all­mäh­li-cher Ver­voll­komm­nung der Inter­pre­ta­ti­on durch Kri­tik“. Auf die­se Wei­se kann die Psy­cho­lo­gie zu einer Grund­la­gen­wis­sen­schaft auch der übri­gen Geis­tes­wis­sen­schaf­ten wer­den, wodurch ihr eine äu-ßerst anspruchs­vol­le Auf­ga­be gestellt wird. Wundt hat die Prin­zi­pi­en der Inter­pre­ta­ti­on, wel­che er als grund­le­gend für die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, aber auch für die „Psy­cho­lo­gie als empi­ri­sche Geis­tes-wis­sen­schaft“ ansah, in einer „Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re“ aus­ge­ar­bei­tet und sie – etwas ver­steckt – in der drit­ten und vier­ten Auf­la­ge und im hin­zu­ge­füg­ten drit­ten Band sei­ner „Logik“ 1906–1908 ver­öf­fent-licht. Fah­ren­berg hat sie in sei­ner Arbeit „Wil­helm Wundts Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re“ (5) vor­ge­stellt und erläutert.
Fah­ren­berg zufol­ge ist Wundt als Theo­re­ti­ker der Grund­la­gen der Psy­cho­lo­gie bis heu­te weder über-holt noch über­bo­ten. „Wundt ver­trat einen Metho­den­plu­ra­lis­mus und ent­wi­ckel­te neben der Expe­ri-men­tal­psy­cho­lo­gie eine psy­cho­lo­gi­sche Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re, ins­be­son­de­re für sei­ne umfang­rei­che Kul­tur­psy­cho­lo­gie. Er defi­nier­te die Psy­cho­lo­gie als eine empi­ri­sche Geis­tes­wis­sen­schaft, die zwar z.T. phy­sio­lo­gi­sche Metho­den als Hilfs­mit­tel ver­wen­det, jedoch grund­sätz­lich nicht mit einer natur-wis­sen­schaft­li­chen Kau­sal­for­schung ver­wech­selt wer­den darf.
Wundt emp­fahl als epis­te­mi­sche Grund­hal­tung einen psy­cho­phy­si­schen Par­al­le­lis­mus im Sin­ne eines heu­ris­ti­schen bzw. metho­do­lo­gi­schen Prin­zips. Es folgt aus ihm, daß jede Form von Reduk­tio­nis­mus ver­mie­den wer­den kann und soll. Geis­ti­ge Pro­zes­se müs­sen nicht auf Hirn­vor­gän­ge redu­zier­bar sein. Psy­cho­lo­gie ist nur „per­spek­ti­visch“ mög­lich. Aus den unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven kom­men un-ter­schied­li­che Aspek­te und For­schungs­fel­der ins Blick­feld. Fah­ren­berg setzt den – hier nur skiz­zier-ten – metho­do­lo­gi­schen Dua­lis­mus Wundts (im Hin­blick auf Bewusst­seins­psy­cho­lo­gie und Neu­ro-phy­sio­lo­gie) in Bezie­hung zu Niels Bohrs Begriff der Kom­ple­men­ta­ri­tät, die aus den Wider­sprü­chen des Wel­le-Kor­pus­kel-Pro­blems erwach­sen ist, aber von Bohr auch für die wech­sel­sei­ti­ge Ergän­zung kate­go­ri­al grund­ver­schie­de­ner Beschrei­bungs­ebe­nen ver­wen­det wur­de. Dar­aus folgt kei­nes­wegs eine Belie­big­keit der Per­spek­ti­ven. Die For­de­rung nach metho­di­scher Stren­ge, nach Beweis und Kri­tik bleibt bestehen.
Mehr­fach erwähnt Fah­ren­berg die „Inter­pre­ta­ti­ons­ge­mein­schaft“, wie sie etwa für die Psy­cho­ana­ly­se cha­rak­te­ris­tisch ist (z. B. als Inter­vi­si­ons­grup­pen, zu denen sich die meis­ten Psy­cho­ana­ly­ti­ker regel-mäßig zusam­men­fin­den) als eine Form der „Ver­voll­komm­nung der Inter­pre­ta­ti­on durch Kri­tik“, wie sie Wundt vor­ge­schwebt haben mag. Ver­langt nicht auch die expe­ri­men­tal­psy­cho­lo­gi­sche For­schung eine sehr ähn­li­che Stra­te­gie, d.h. die Inter­pre­ta­ti­on von spe­zi­el­len Hypo­the­sen, Ope­ra­tio­na­li­sie­run­gen, Kon­tex­ten und Daten, also „Über­set­zun­gen“ und kri­ti­sche Erör­te­run­gen der oft sehr inkon­sis­ten­ten Befunde?
Heu­te ist fast völ­lig ver­ges­sen, dass Wundt auf­grund sei­ner For­schungs­vor­ha­ben in bei­den Metho– den­rich­tun­gen, im expe­ri­men­tell-sta­tis­ti­schen Para­dig­ma und im inter­pre­ta­ti­ven Para­dig­ma sehr erfah-ren war. Könn­te es heu­te fach­po­li­tisch unan­ge­nehm sein, kor­rekt zu erin­nern, dass er zugleich Her­me­neu­ti­ker und Expe­ri­men­tal­psy­cho­lo­ge war, und dass er es ablehn­te, Psy­cho­lo­gie als eine Natur­wis­sen­schaft zu bezeich­nen? Befürch­te­te er doch, dass sich die neue Psy­cho­lo­gie bei einer Tren-nung von der Phi­lo­so­phie (ins­be­son­de­re Erkennt­nis­theo­rie und Ethik) auf ein blos­ses Hand­werk redu-zie­ren würde.
Wer sich mit Wundts Werk und sei­ner ori­gi­nel­len Wis­sen­schafts­kon­zep­ti­on näher beschäf­tigt, meint Fah­ren­berg, wird sich dem Ein­druck nicht ent­zie­hen kön­nen, daß Wundts per­spek­ti­vi­sche Auf­fas­sung des Men­schen epis­te­mo­lo­gisch und metho­do­lo­gisch aus­führ­lich begrün­det war; sein nahe­zu uni­ver­sel-les Wis­sen in einem umfas­sen­den theo­re­ti­schen Hori­zont – und sein Anspruch auf brei­te Gel­tung der Psy­cho­lo­gie als empi­ri­sche Geis­tes­wis­sen­schaft – sei­en spä­ter kaum mehr erreicht worden.

Kant und Wundt haben – so könn­te man sagen – eine Visi­on gemein­sam, die Visi­on einer umfas­sen-den und wesent­lich auch psy­cho­lo­gi­schen Anthro­po­lo­gie. Die­ses Pro­gramm einer inter­dis­zi­pli­nä­ren Anthro­po­lo­gie, wel­ches Fah­ren­berg sich zu eigen macht, ver­langt ihm zufol­ge die gleich­be­rech­tig­te Auf­fas­sung der Bei­trä­ge einer­seits der bio­lo­gi­schen und neu­ro­wis­sen­schaft­li­chen Psy­cho­lo­gie, ande-rer­seits aber auch der geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen, der phä­no­me­no­lo­gi­schen und der tie­fen­psy­cho­lo­gi-schen Psy­cho­lo­gie, wie sie gegen Ende der 1960er Jah­re an vie­len psy­cho­lo­gi­schen Insti­tu­ten noch ver­tre­ten waren und in den nach­fol­gen­den Hoch­schul­leh­rer­ge­nera­tio­nen durch ein ein­sei­ti­ges Wis-sen­schafts­ver­ständ­nis zuneh­mend ver­drängt wurden.
In einer sehr viel umfang­rei­che­ren Fas­sung der „Wis­sen­schafts­kon­zep­tio­nen“ (4) setzt sich Fah­ren­berg kon­kret mit den Pro­ble­men der Stu­di­en­re­form des Faches Psy­cho­lo­gie aus­ein­an­der. Die Deut­sche Gesell­schaft für Psy­cho­lo­gie, Fach­ge­sell­schaft vor allem der Psy­cho­lo­gen an den Uni­ver­si-täten, defi­niert die Psy­cho­lo­gie als eine „empi­ri­sche Wis­sen­schaft“, die „Ele­men­te der Natur‑, Sozi­al- und Geis­tes­wis­sen­schaf­ten“ ver­ei­ne. Prak­tisch zei­gen die neu­en Cur­ri­cu­la für die Bache­lor- und Mas­ter­stu­di­en­gän­ge jedoch, daß die Metho­den­leh­re der Expe­ri­men­tal­psy­cho­lo­gie und Sta­tis­tik das Stu­di­um bei wei­tem domi­niert. An vie­len Insti­tu­ten fehlt eine fun­dier­te Aus­bil­dung in all­tags­na­hen Beob­ach­tungs­me­tho­den, Inter­view, Inhalts­ana­ly­se und in der wohl als unwis­sen­schaft­lich gel­ten­den Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re (wie sie Wundt als ers­ter Psy­cho­lo­ge ver­fass­te). Eine ande­re Kon­se­quenz ist, dass der frü­her zeit­wei­lig inte­grier­te Bereich Psy­cho­ana­ly­se und Tie­fen­psy­cho­lo­gie aus den psycho-logi­schen Fach­be­rei­chen eli­mi­niert wur­de. Die Dis­kre­panz ist unüber­seh­bar: kaum eine Absol­ven­tin, kaum ein Absol­vent des Psy­cho­lo­gie-Stu­di­um wird in der Berufs­pra­xis natur­wis­sen­schaft­lich-expe­ri­men­tell arbei­ten. Die Vor­zü­ge des wis­sen­schaft­li­chen Trai­nings in expe­ri­men­tel­ler Metho­dik recht­fer­ti­gen nicht den Ver­zicht auf ein gründ­li­ches Trai­ning der prak­tisch wich­ti­ge­ren Interpretati-onsmethodik.

Vie­le Hoch­schul­leh­rer ver­stün­den die Psy­cho­lo­gie vor­wie­gend als Natur­wis­sen­schaft, und Fah­ren­berg dis­ku­tiert die Berech­ti­gung die­ses Anspru­ches. Er kommt zu dem Ergeb­nis, daß empi­ri-sche Psy­cho­lo­gie höchs­tens in den schma­len Grenz­be­rei­chen zur Phy­sio­lo­gie als qua­si-natur­wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­plin gel­ten kön­ne. An Bei­spie­len aus sei­nem eige­nen psy­cho­phy­sio­lo­gi-schen For­schungs­feld zeigt er, daß „psy­cho­lo­gi­sche For­schungs­rich­tun­gen, die auf den ers­ten Blick ein­deu­tig experimentell‑, ver­hal­tens- bzw. natur­wis­sen­schaft­lich zu sein schei­nen, in zen­tra­ler Wei­se durch die indi­vi­du­el­le Bewer­tung der Sti­mu­li, der Labor­auf­ga­be und des sozia­len Kon­texts beein-flußt sind.“ Hier sei einer der Grün­de für die sehr ver­brei­te­te Inkon­sis­tenz der empi­ri­schen Befun­de zu wich­ti­gen theo­re­ti­schen Kon­tro­ver­sen und für das gerin­ge sys­te­ma­ti­sche Wachs­tum „gesi­cher-ter“ Sach­ver­hal­te zu suchen. – „Die Psy­cho­lo­gie in ihrem Pro­gramm und ihrer Metho­dik als eine vor­wie­gend natur­wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­plin sehen zu wol­len, ist ein­fach unrea­lis­tisch, hin­sicht­lich ihrer Berufs­pra­xis sogar eine völ­li­ge Fehl­ein­schät­zung“. In der Berufs­pra­xis der Psy­cho­lo­gen, kei-nes­wegs nur in der Kli­ni­schen Psy­cho­lo­gie, wird ganz über­wie­gend inter­pre­ta­tiv gear­bei­tet, wofür im Stu­di­um nur weni­ge metho­di­sche Grund­la­gen gelegt werden.

Im Wei­te­ren setzt sich Fah­ren­berg mit dem Ver­ständ­nis der Psy­cho­lo­gie als Ver­hal­tens­wis­sen­schaft, als Sozi­al­wis­sen­schaft und als Geis­tes­wis­sen­schaft aus­ein­an­der. Sei­ne respekt­vol­le Ein­schät­zung der Psy­cho­ana­ly­se kommt in fol­gen­dem Satz zum Aus­druck: „Die Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re in den Geis­tes-wis­sen­schaf­ten und die Psy­cho­ana­ly­se stim­men dar­in über­ein, daß Bedeu­tun­gen nicht sofort und nicht an der Ober­flä­che her­vor­tre­ten, son­dern aktiv gesucht wer­den müs­sen.“ Er for­dert für das Uni-ver­si­täts­fach Psy­cho­lo­gie: „Wesent­lich sind die Fokus­sie­rung auf das Sub­jekt des Bewußt­seins und Han­delns, auf Sub­jek­ti­vi­tät und Inten­tio­na­li­tät und – auch als mög­li­che Kon­trol­le zu ver­ste­hen – die gene­rel­le Refle­xi­vi­tät des Inter­pre­ten bzw. Unter­su­chers in die­sem Pro­zeß. Geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Ele­men­te wür­den sich kon­kret dar­in zei­gen, daß bereits im Grund­stu­di­um die grund­le­gen­den Metho-den der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten, d.h. die Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re von Tex­ten und Wer­ken, sowie ein­ge-hend auch die bio­gra­phi­sche Metho­de, unter­rich­tet wer­den.“ – Die­ser Satz kann auch von jedem Psy­cho­ana­ly­ti­ker unter­schrie­ben wer­den! – Fah­ren­berg for­dert die Zurück­ge­win­nung des Metho­den-plu­ra­lis­mus, d.h. der Fähig­keit zum Per­spek­ti­ven­wech­sel, im Sin­ne Wundts und des Kom­ple­men­ta­ri­täts­prin­zips im Sin­ne Bohrs für die Psy­cho­lo­gie. Die Grund­prin­zi­pi­en der Wis­sen-schaft­lich­keit sol­len dabei gewahrt blei­ben, die er anhand von Steg­mül­ler benennt: Bemü­hen um sprach­li­che Klar­heit und inter­sub­jek­ti­ve Ver­ständ­lich­keit; Mög­lich­keit der Über­prü­fung durch ande­re Wis­sen­schaft­ler; Bemü­hen um ratio­na­le und empi­ri­sche Argu­men­te für jede Aus­sa­ge. Schließ­lich bedau­ert Fah­ren­berg die Tren­nung von Psy­cho­lo­gie und Phi­lo­so­phie, durch die Eli­mi­nie­rung des „Neben­fa­ches“ Phi­lo­so­phie seit den 1980er Jah­ren. Wesent­li­che Grund­an­nah­men der Psy­cho­lo­gie sei­en – wie u.a. von Col­ling­wood auch für die Natur­wis­sen­schaf­ten dar­ge­legt – durch­weg von phi­lo-sophi­schen Vor­ent­schei­dun­gen abhän­gig, so daß die Refle­xi­on der spe­zi­el­len Vor­aus­set­zun­gen auf einer phi­lo­so­phi­schen Meta­ebe­ne unab­ding­bar sei (aus­führ­li­cher dazu Wala­ch, auf den Fah­ren­berg ver­weist: Psy­cho­lo­gie. Wis­sen­schafts­theo­rie, phi­lo­so­phi­sche Grund­la­gen und Geschich­te. Kohl-ham­mer Stutt­gart 2005/2010).

Fah­ren­berg hat sei­ne Vor­stel­lun­gen über eini­ge Haupt­the­men der von ihm inten­dier­ten psy­cho­lo­gi-sche Anthro­po­lo­gie in einem Arbeits­buch für Stu­die­ren­de mit dem Titel „Annah­men über den Men-schen – Men­schen­bil­der aus psy­cho­lo­gi­scher, bio­lo­gi­scher, reli­giö­ser und inter­kul­tu­rel­ler Sicht – Tex­te und Kom­men­ta­re zur Psy­cho­lo­gi­schen Anthro­po­lo­gie“ (1) ver­öf­fent­licht. Beson­ders bemer-kens­wert ist, daß er sei­ne „Men­schen­bil­der“ mit Zita­ten aus den Wer­ken von Psy­cho­the­ra­peu­ten be-gin­nen läßt, allen vor­an aus denen von Sig­mund Freud. Die Bespre­chung die­ses Wer­kes wür­de lei­der den für die­se Rezen­si­on gewähl­ten Rah­men sprengen.
Fah­ren­berg ist kein pole­mi­scher Autor. Sei­ne Ansich­ten trägt er dezi­diert, aber mit Respekt vor den Mei­nun­gen ande­rer vor. Er bedient sich sehr häu­fig des Fra­ge­zei­chens als Auf­for­de­rung zum Nach-den­ken über eines der vie­len The­men, die er anspricht und wel­che hier nicht voll­stän­dig auf­ge­zählt wer­den können.
Man kann Fah­ren­bergs Revi­si­on der Psy­cho­lo­gie – im Sin­ne von Rück­blick auf die sou­ve­rä­ne Wis-sen­schafts­kon­zep­ti­on Wundts und des­sen Vor­aus­sicht auf pro­gram­ma­ti­sche Fehl­ent­wick­lun­gen – nur als äußerst dis­kus­si­ons­wür­dig ein­schät­zen. Mit Hil­fe des Rück­griffs auf die Anthro­po­lo­gie Imma­nu­el Kants und die „monis­ti­sche Per­spek­ti­vi­tät“ Wundts erwei­tert er das The­men- und For­schungs­feld, wel­ches sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten im uni­ver­si­tä­ren Main­stream gra­vie­rend ver­engt hat. In sei­ner Sicht haben Psy­cho­ana­ly­se und Tie­fen­psy­cho­lo­gie dar­in einen wesent­li­chen Ort als Inter­pre­ta­ti-ons­wis­sen­schaf­ten und als eine der Haupt­strö­mun­gen des Faches. Sei­ne gründ­li­chen Erör­te­run­gen bie­ten nicht zuletzt ein wohl kaum über­biet­ba­res Mate­ri­al für die uni­ver­si­täts- und berufs­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen der Gegen­wart und nähe­ren Zukunft.

Lite­ra­tur von Jochen Fahrenberg

1) Annah­men über den Men­schen. Men­schen­bil­der aus psy­cho­lo­gi­scher, bio­lo­gi­scher, reli­giö­ser und inter­kul­tu­rel­ler Sicht. Tex­te und Kom­men­ta­re zur Psy­cho­lo­gi­schen Anthro­po­lo­gie. 2003 (2. Aufl. 2008). Asan­ger Ver­lag GmbH Kröning

2) Men­schen­bil­der (2007)
Psy­cho­lo­gi­sche, bio­lo­gi­sche, inter­kul­tu­rel­le und reli­giö­se Ansich­ten. Psy­cho­lo­gi­sche und Inter­dis­zip-linä­re Anthropologie.
Fah­ren­berg, J. (2007). e‑book auf dem Psy­Dok Doku­men­ten­ser­ver der Uni­ver­si­tät des Saar­lan­des (Vir­tu­el­le Fach­bi­blio­thek Psychologie).
URL: http://​psy​dok​.sulb​.uni​-saar​land​.de/​v​o​l​l​t​e​x​t​e​/​2​0​0​7​/​9​81/
außer­dem auf Home­page http://​www​.jochen​-fah​ren​berg​.de

3) Die Wis­sen­schafts­kon­zep­ti­on der Psy­cho­lo­gie bei Kant und Wundt (2008)
In: e‑Journal Phi­lo­so­phie der Psy­cho­lo­gie 10 (2008), http://​www​.jp​.phi​lo​.at/​t​e​x​t​e​/​F​a​h​r​e​n​b​e​r​g​J​2​.​pdf
außer­dem auf Home­page http://​www​.jochen​-fah​ren​berg​.de 

4) Die Wis­sen­schafts­kon­zep­tio­nen der Psy­cho­lo­gie bei Kant und Wundt als Hin­ter­grund heu­ti­ger Kon­tro­ver­sen. Struk­tu­rel­ler Plu­ra­lis­mus der Psy­cho­lo­gie und Kom­ple­men­ta­ri­täts­prin­zip. Defi­zi­te der Phi­lo­so­phi­schen und Psy­cho­lo­gi­schen Anthro­po­lo­gie und ein Plä­doy­er für eine inter­dis­zi­pli­nä­re Anthro­po­lo­gie. (2008)
URL: http://​psy​dok​.sulb​.uni​-saar​land​.de/​v​o​l​l​t​e​x​t​e​/​2​0​0​8​/​1​5​57/
außer­dem auf Home­page http://​www​.jochen​-fah​ren​berg​.de

5 ) Wil­helm Wundts Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re (2008)
Fah­ren­berg, J. (2008). Wil­helm WUNDTs Inter­pre­ta­ti­ons­leh­re. Forum Qua­li­ta­ti­ve Sozi­al­for­schung / Forum: Qua­li­ta­ti­ve Social Rese­arch, 9(3), Art. 29
http://​www​.qua​li​ta​ti​ve​-rese​arch​.net/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​/​f​q​s​/​a​r​t​i​c​l​e​/​v​i​e​w​/​1​1​5​1​/​2​565

Prof. Dr. Hans-Vol­ker Werthmann
Wies­ba­den 2010

Anmer­kung:
Fah­ren­berg hat sei­ne Wundt­for­schung durch einen wei­te­ren Band (auf sei­ner Web-Site) ergänzt, in wel­chem er unter­sucht, war­um der Ansatz Wundts von sei­nen Nach­fol­gern nicht fort­ge­setzt wurde.

Schliess­lich hat er einen umfang­rei­chen Auf­satz über Wundt bei der „Psy­cho­lo­gi­schen Rund­schau“ ein­ge-reicht, die ihn – wie er mir schrieb – ange­nom­men hat. Soll­te also dem­nächst erschei­nen. Er ist sehr wis­sen­schaft­lich beschrie­ben, sei­ne Spreng­kraft erschliesst sich erst durch gründ­li­ches Lesen.