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Ein Jahr aus der Nacht gesprochen von Peter Handke (2010)

„Ein jeder, der rätselt, ist willkommen“

Wenn ein Schrift­stel­ler arbei­tet, dann beschreibt er eine Umge­bung, eine Figur, ein Gescheh­nis mit Wor­ten, die dem Leser einen Zugang zu die­ser fik­ti­ven Welt geben sol­len. Soll­te man mei­nen. Für das Buch „Ein Jahr aus der Nacht gespro­chen“ hat Peter Hand­ke jedoch nichts von dem getan.

Wie die­ses Buch statt­des­sen ent­stan­den ist, lässt sich schnell erklä­ren. Unmit­tel­bar nach dem Erwa­chen, also gleich­sam „aus der Nacht“ hat Hand­ke notiert, was ihm noch in den Ohren klang: „Ich wer­de ab Herbst in Graz Luft­wis­sen­schaf­ten stu­die­ren. Rufen Sie mich an!“ (S. 73), „Gehen wir zum Was­ser, es glie­dert!“ (S. 43) oder „Ein Held ist nicht, wer euch ver­dreht“ (S. 31); Sät­ze, die albern, rät­sel­haft oder tief­sin­nig klin­gen und sol­che, die je nach inne­rer Into­na­ti­on ihre Fär­bung ver­än­dern; Sät­ze, die so unver­bun­den in der Dun­kel­heit ste­hen und leuch­ten, wie die Ster­ne auf dem Buch­um­schlag der 2010 im öster­rei­chi­schen Ver­lag Jung und Jung erschie­ne­nen Ausgabe. 

Das Motiv des sternenübersäten Nacht­him­mels ist klug gewählt, weil es wich­ti­ge Fra­gen auf­wirft. Die vor­lie­gen­den Traum­frag­men­te ste­hen syn­tak­tisch wie Ster­ne neben­ein­an­der – doch lie­gen nicht auch zwi­schen ihnen (in seman­ti­scher Hin­sicht) Licht­jah­re? Und ist das Leuch­ten der rät­sel­haf­ten Sät­ze wirk­lich ihrer Bedeu­tungs­la­dung geschul­det oder nicht eher einer Reflek­ti­on weit gereis­ten Lichts? Exis­tiert die­ser Ster­nen­him­mel viel­leicht sogar im Gan­zen bloß in der Lin­se des Betrachters?

Die vor­lie­gen­den Traum­frag­men­te ste­hen syn­tak­tisch wie Ster­ne neben­ein­an­der – doch lie­gen nicht auch zwi­schen ihnen (in seman­ti­scher Hin­sicht) Lichtjahre? 

Dazu passt, dass vie­le Noti­zen unwillkürliches Schmun­zeln anre­gen („Die Insel La Réuni­on möch­te das Wien des Indi­schen Oze­ans wer­den“, S. 68). Es ist kei­ne Leich­tig­keit, son­dern Absur­di­tät, der dro­hen­de Sturz von strah­len­den Fix­ster­nen ewi­ger Wahr­heit in die schwar­ze Bedeu­tungs­lee­re des Uni­ver­sums, der uns hier zum Lachen bringt. Auch in der Kul­tur­ge­schich­te von Traum und Traum­deu­tung fin­den sich die­se Interpretationsvielfalt ​(Reck, 2010)​: zwi­schen dem Traum als Bot­schaft höhe­rer Mäch­te oder inne­rer Vor­gän­ge und dem Traum als der blo­ßen Illus­tra­ti­on sinn­lo­ser Neuronengewitter ​(Hob­son & McCar­ley, 1977)​.

Es ist eine Her­aus­for­de­rung der Fähig­keit des Lesers, Nicht­wis­sen und Nicht-Inter­pre­tier­bar­keit zu tole­rie­ren. Und dar­in mag es dem Leser nicht bes­ser erge­hen als dem Autor, der im Inter­view mit der ZEIT angibt, bei­spiels­wei­se dem „Chipa Dako­ta“ („Auf allen Men­schen soll­te das Licht so ruhen wie auf einem Chipa Dako­ta“) eben­so unwis­send gegenüberzustehen wie ein Fremder ​(Grei­ner, 2010)​. Die inne­ren Ursprünge die­ser unkom­men­tier­ten, schwarz auf weiß gedruck­ten Traum­frag­men­te blei­ben eine Black Box für den Leser, eben­so wie der schwar­ze Nacht­him­mel mit sei­nen wei­ßen Punkten. 

Die Idee, dass die Psy­che eine Black Box sei, in die man nicht hin­ein­se­hen kön­ne und dürfe, ist nicht neu – der frühe Beha­vio­ris­mus basiert dar­auf. Er ver­kennt jedoch die mensch­li­che Reak­ti­on auf eine Black Box. Und dar­in liegt die ein­zig­ar­ti­ge Stär­ke des Nacht­buchs. Es macht den see­li­schen Drang sicht­bar, die Sät­ze laut nach­zu­spre­chen, ihren Sinnfühlen und ver­ste­hen zu wol­len, selbst wenn eine Erklä­rung unmög­lich erscheint. 

„Selt­sa­mer, du bist so schwer zu durch­schau­en.“ – „Du willst mich also durch­schau­en?“‘ (S. 74), heißt es an einer Stel­le. Es dau­ert nicht lan­ge, dann erschei­nen einem die­se Wor­te aus der Nacht als Zwie­ge­spräch von Leser und Buch.

Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (2010)

von Peter Handke

Erschienen bei Jung und Jung

ISBN: 9783902497802