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Die besinnliche Destruktivität der Seele

Unsere Psyche sehnt sich. Nach dem Ganz-Werden, dem Verschmelzen. Gegenüber steht der Wunsch nach Zerstörung und die Rückkehr in den anorganischen Zustand. Doch wie lässt sich dieser Urzustand beschreiben?

Die besinnliche Destruktivität der Seele

Unsere Psyche sehnt sich. Nach dem Ganz-Werden, dem Verschmelzen. Gegenüber steht der Wunsch nach Zerstörung und die Rückkehr in den anorganischen Zustand. Doch wie lässt sich dieser Urzustand beschreiben?

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen

Ludwig Wittgenstein

Hin­ter uns lie­gen Tage der Besinn­lich­keit, Düfte von Tan­nen, Brat­äp­feln, Glühwein, Leb­ku­chen und der Anblick von beleuch­te­ten Gas­sen. Doch wis­sen wir alle, dass Weih­nach­ten nicht nur besinn­lich ist. 

Vie­le von uns ken­nen auch das Zie­hen durch überheizte Geschäf­te, in denen man Jacke, Mütze, Schal und Hand­schu­he am liebs­ten für den Ein­kauf aus­zie­hen möch­te, um dann nicht zu wis­sen, wohin damit und sie bereits nach 10 Minu­ten beim Ver­las­sen des Ladens wie­der anzu­zie­hen. Lär­men­de Kauf­häu­ser und end­lo­se War­te­schlan­gen – die ken­nen wir auch. Wir erzeu­gen Besinn­lich­keit durch teil­wei­se destruk­ti­ve Ver­hal­tens­wei­sen. Indem wir ande­ren das letz­te Spiel­zeug für die lie­ben Klei­nen vor der Nase weg­schnap­pen oder uns auf überfüllten Weih­nachts­märk­ten durch die Mas­se nach vor­ne drängeln. 

Man fährt im dunk­len zur Uni und kommt im dun­keln aus der Uni zurück, um neben dem Aus­hal­ten des „fröh­lich-besinn­li­chen“ Freud-Beschimp­fens (ja, auch das kann weih­nacht­lich gestal­tet wer­den) nur noch auf die zwei frei­en Wochen und die Zeit mit Freun­den und der Fami­lie zu war­ten. Und doch: Die suche nach Lie­be, Gebor­gen­heit, Besinn­lich­keit, woher kommt das eigent­lich? Dabei stellt sich gleich die viel­leicht noch bedeu­ten­de­re Fra­ge: Woher kommt die Akzep­tanz von Destruk­ti­on, im Sin­ne von het­zen, drän­geln und end­lo­sen Warteschlangen? 

War­um sind wir dar­auf bedacht einen früheren Zustand wie­der herzustellen? 

In Pla­tons Sym­po­si­um exis­tie­ren mys­ti­sche Wesen der Anti­ke, die Kugel­men­schen. Die Kugel­men­schen wie­sen drei Geschlech­ter auf. Das männ­li­che, weib­li­che und das männ­lich-weib­li­che. Sie hat­ten acht Extre­mi­tä­ten, beweg­ten sich rad­schla­gend und hat­ten dop­pel­te Geschlechts­tei­le. Sie zeug­ten in die Erde und fühlten sich so unbe­sieg­bar, dass sie sich einen Weg zu den Göt­tern bah­nen woll­ten. Zeus wand­te die­se Inva­si­on der Kugel­men­schen ab, in dem er sie spal­te­te und aus ihnen zwei Men­schen mach­te. Die­se Hal­bie­rung soll ihnen deut­lich machen, dass sie den Göt­tern unter­ge­ord­net sind. Die hal­bier­ten Men­schen suchen nun seit­her auf der Erde nach ihrer ande­ren Hälf­te, weil sie nur so ihr Gegenstück wie­der fin­den kön­nen. Nach Pla­ton gibt es so drei Vari­an­ten der sexu­el­len Sehn­sucht, zum einen die männ­lich-weib­li­che, dann die weib­lich-weib­li­che und die männ­lich-männ­li­cheBuch­ner, H. (1965). Eros und Sein. Erör­te­run­gen zu Pla­tons Sym­po­si­on..

Obwohl Freud die­se Geschich­te als sehr phan­ta­sie­voll inter­pre­tier­te, erwähnt er sie doch in sei­ner Abhand­lung „Jen­seits des Lust­prin­zips“ als Vor­läu­fer aus der Anti­ke zur Bestä­ti­gung sei­ner Theo­rie von der Natur der Trie­be. Denn die­se Geschich­te „lei­tet näm­lich einen Trieb ab von dem Bedürf­nis nach Wie­der­her­stel­lung eines frü­he­ren Zustan­des.“Freud, S. (2021). Sig­mund Freud gesam­mel­te Wer­ke / Jen­seits des Lust­prin­zips (2. Aufl.). epu­b­li..

Freud unter­schei­det in zwei Trieb­grup­pen. Er dif­fe­ren­ziert die Lebens­trie­be und die Todes­trie­be. Die Lebens­trie­be erhal­ten Ener­gie aus der Libi­do. Bei den Todes­trie­ben gibt es eine Nei­gung zur Selbst­zer­stö­rung, oder weni­ger stark aus­ge­prägt eine Nei­gung zur Destruk­ti­on und Aggres­si­on. Die Todes­trie­be haben zum Ziel den Orga­nis­mus in einen anor­ga­ni­schen Zustand zurück zu ver­set­zen. „Der ver­dräng­te Trieb gibt nicht auf“, er wird „nach des Dich­ters Wor­ten „unge­bän­digt immer vor­wärts“ drän­gen. War­um sind wir dar­auf bedacht einen früheren Zustand wie­der herzustellen? 

Viel­leicht weil alles aus Sin­gu­la­ri­tät beginnt. Bereits der Urknall bezeich­net die gemein­sa­me Ent­ste­hung von Mate­rie, Raum und Zeit aus einer ursprünglichen Sin­gu­la­ri­tät, auch wenn wir nicht genau wis­sen, was die­se Sin­gu­la­ri­tät genau meint. Doch auch wenn wir nicht wis­sen, was die­se Sin­gu­la­ri­tät genau meint, müssen wir nicht darüber schwei­gen, dass es die­sen Anfang gibt. Einen Anfang wonach sich laut Freud auch unse­re Psy­che sehnt?