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Skyfall (2012)

M ist tot – es lebe M

Als ich zum ers­ten Mal ein Hotel von innen sah – mit neun oder zehn Jah­ren im Fami­li­en­ur­laub – war ich vol­ler Span­nung. So vie­le namen­lo­se Frem­de, von denen jeder sei­ne eige­ne, ver­bor­ge­ne Geschich­te her­um­trug, hin­ter so vie­len geschlos­se­nen, iden­ti­schen Zimmertüren in so vie­len lee­ren Gän­gen! Wäre es mög­lich gewe­sen, hier mit mei­nem Freund Geheim­agent zu spie­len, wie wir es zuhau­se an jedem zwei­ten Nach­mit­tag taten – wir hät­ten wohl sämt­li­che Mahl­zei­ten ver­passt. War­um ich die­sen Ort so inspi­rie­rend fand, weiß ich erst heu­te. Denn der neu­es­te Film der Rei­he, der den Titel „Sky­fall“ trägt, legt das ver­bin­den­de Ele­ment, ein Betriebs­ge­heim­nis gewis­ser­ma­ßen, offen dar.

Es ist die bis zur Käl­te for­ma­li­sier­te Mütterlichkeit, die sowohl den fil­mi­schen Kos­mos von James Bond als auch das Hotel im Inners­ten zusam­men­hält. Im Hotel ist für Sicher­heit, Sau­ber­keit, Wär­me, Schla­fen, Essen, Trin­ken usw., häu­fig sogar für ein „Bett­hup­ferl“, gesorgt – es erfüllt, psy­cho­ana­ly­tisch betrach­tet, quasi-mütterliche Ver­sor­gungs­auf­ga­ben. Auch der Aus­druck „Hotel Mama“ bezeugt, dass Hotels eine quasi-mütterliche Leis­tung anbie­ten, die aber natürlich nur eine lee­re Hülle ist, weil sie ihres wich­tigs­ten Bestand­teils beraubt ist: der mütterlichen Lie­be. Die­ser Man­gel ist viel­leicht eine Unvoll­kom­men­heit, viel­leicht aber auch gera­de der Sinn des Hotels: In sei­ner Anony­mi­tät wird nie­mand, der sich in der Frem­de befin­det, dar­auf auf­merk­sam gemacht, was ihm eigent­lich fehlt. Doch wie ist das mit der Welt von James Bond?

„Im neu­en, nun­mehr sieb­ten gemein­sa­men Aben­teu­er bil­det die ödi­pa­le Bezie­hung das dunk­le Herz des gan­zen Films.“, schreibt der ZEIT- Redak­teur Chris­tof Sie­mes und hebt lobend die „Wen­dung nach innen, ins Psy­cho­lo­gi­sche“ an dem jüngsten Auf­tritt von James Bond in „Sky­fall“ her­vor, in dem ein ver­sto­ße­ner Agent den bri­ti­schen Geheim­dienst und sei­ne Lei­te­rin M zu ver­nich­ten sucht ​(Sie­mes, 2012)​. Sie­mes deu­tet sehr rich­tig auf den Kern des neu­en Films, aber lei­der ver­fehlt sei­ne Inter­pre­ta­ti­on die Natur der Bezie­hung zwi­schen dem bri­ti­schen Geheim­agen­ten und sei­ner Vor­ge­setz­ten. Es stimmt, dass James Bond kei­ne wirk­lich bedeut­sa­men Bezie­hun­gen zu Frau­en hat und nur zu M immer wie­der zurückkehrt. Es stimmt eben­so, dass sie ihn überwacht und sei­nen Lebens­stil häu­fig abschät­zig bis sor­gen­voll kom­men­tiert. Wenn Chris­tof Sie­mes die­se Bezie­hung jedoch als „ödi­pal“ und Bond als „Sohn“ von „M(om)“ dar­stellt, erweckt er den Anschein, es hand­le sich hier um eine genui­ne Mut­ter-Sohn-Bezie­hung und nicht um eine qua­si-Bezie­hung, der gera­de alle per­sön­li­che Ver­bun­den­heit fehlt.

Denn gera­de dass kei­ne tie­fen Bin­dun­gen dort exis­tie­ren, dass jeder Sol­dat ersetz­bar ist, gibt James Bond, der eigent­lich von einem trau­ma­ti­schen Ver­lust und der Uner­setz­bar­keit sei­ner Eltern gezeich­net ist, eine Art Unver­wund­bar­keit, die er auf ande­rem Wege nicht bekom­men kann.

Die­ser ele­men­ta­re Man­gel zeigt sich bereits in ihrem bis auf das Initi­al redu­zier­ten Namen „M“, der eigent­lich mehr eine Dienst­po­si­ti­on als ein Indi­vi­du­um bezeich­net. Auch Ms sol­da­ti­sche Indif­fe­renz gegenüber den Bau­ern­op­fern, die die Geheim­dienst­ak­ti­vi­tä­ten immer wie­der for­dern, trägt kei­ne Züge von Mütterlichkeit – schon in der Anfangs­se­quenz wird deut­lich, dass auch Bond mehr Bau­er als Kron­prinz ist. Und auch wenn er M schließ­lich bis aufs Blut ver­tei­digt, gewinnt man doch eigent­lich an kei­ner Stel­le den Ein­druck, er kämp­fe dort um sei­ne Mut­ter. Denn deren gewalt­sa­mer Tod geht Bonds Ein­tritt in den Geheim­dienst vor­aus, was M an einer Stel­le nüchtern mit dem Satz kom­men­tiert: „Wai­sen waren immer schon die bes­ten Rekru­ten“. Wenn also Bond nicht, wie Sie­mes naiv-psy­cho­lo­gisch behaup­tet, gegen sei­nen „Bru­der“, um Leben und Gunst sei­ner „Mut­ter“ kämpft – was tut er dann?

Er ver­tei­digt die sym­bo­li­sche Ord­nung von Gut und Böse, die „Welt“, die ihm der Geheim­dienst bie­tet. Die­ser ver­sorgt ihn näm­lich quasi-mütterlich mit Erzie­hung, Bil­dung, Wer­ten, einer Sicht der Welt; er sorgt für kör­per­li­che Gesund­heit und finan­zi­el­le Mög­lich­kei­ten. Und sei­ne Ord­nung ent­hält den Man­gel an per­sön­li­chen Bezie­hun­gen nicht als läs­ti­gen Nach­teil, son­dern als kon­sti­tu­ti­ves Ele­ment. Denn gera­de dass kei­ne tie­fen Bin­dun­gen dort exis­tie­ren, dass jeder Sol­dat ersetz­bar ist, gibt James Bond, der eigent­lich von einem trau­ma­ti­schen Ver­lust und der Uner­setz­bar­keit sei­ner Eltern gezeich­net ist, eine Art Unver­wund­bar­keit, die er auf ande­rem Wege nicht bekom­men kann. Aus die­ser Per­spek­ti­ve sind nicht nur Wai­sen die „Lösung“ für den Geheim­dienst, wie man M ver­ste­hen könn­te – son­dern der Geheim­dienst ist eben­so sehr eine Lösung für die Waisen.

Der laca­nia­ni­sche Psy­cho­ana­ly­ti­ker und Phi­lo­soph Sla­voj Žižek schreibt, dass „die ‚Welt‘ als sol­che – das, was wir als ‚Rea­li­tät‘ bezeich­nen – bereits ein Sym­ptom ist“ und das Sym­ptom „eine bestimm­te For­ma­ti­on, die nur inso­fern exis­tiert, als das Sub­jekt eine fun­da­men­ta­le Wahr­heit über sich selbst ignoriert“ ​(Zižek, 1992)​. Inso­fern ist es gut für das Kino­pu­bli­kum, dass Bond nicht, wie Sie­mes behaup­tet, auf „Selbst­er­kun­dungs­trip“ geht – sonst käme das gro­ße Geheim­dienst­spiel womög­lich an sein Ende und wir könn­ten nur noch auf lee­ren Hotel­flu­ren in Erin­ne­run­gen an den gro­ßen Hel­den im Diens­te sei­ner Majes­tät schwelgen.

Referenzen
  1. Sie­mes, C. (2012). Der neue Bond: M wie Mama. DIE ZEIT. https://​www​.zeit​.de/​2​0​1​2​/​4​3​/​J​a​m​e​s​-​B​o​n​d​-​F​i​l​m​-​S​k​y​f​all
  2. Zižek, S. (1992). Mehr-Genie­ßen. Lacan in der Popu­lär­kul­tur. Turia + Kant.
Skyfall (2012)

Action von Sam Mendes

Mit Daniel Craig, Javier Bardem, Judy Dench